Corona-Krise bietet Einzelhandel unverhoffte Chancen
Andreas Grüss: „Kleinstädte erfreuen sich derzeit erstarkter Kundenfrequenz“
Unstrittig ist, dass der Einzelhandel immens unter der Corona-Krise und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Folgen zu leiden hat. Während in den Metropolen und Großstädten die Einkaufsbereitschaft der Kunden wegen der vorherrschenden Einschränkungen noch zu wünschen übriglässt, scheint in Kleinstädten derzeit überraschende Konjunkturstimmung aufzukommen. Bei aller Euphorie mahnen jedoch die Experten: Es handelt sich um eine Momentaufnahme.
Wir schreiben das Jahr 1 vor Corona, Sommer 2019. Vielerorts beklagen deutsche Kleinstädte die zunehmenden Leerstände von Verkaufsflächen. Vom „Aussterben des Einzelhandels“ ist die Rede. Der Handel sei mehr mit der Konzepterstellung zur „Wiederbelebung des Marktgeschehens“ beschäftigt, als mit dem Verkauf seiner Waren. Wer soll denn auch die Produkte kaufen, fragen sich betroffene Branchenteilnehmer. Der Onlinehandel habe den Konsumenten doch bereits bedient. Die Menschen scheinen offensichtlich in ihrer Shoppinglaune gesättigt. Und jene, die es nicht sind, zieht es in die großen Städte, die in Punkto Shoppingerlebnis meist deutlich mehr zu bieten haben.
Zugegeben, eine eher plakative Darstellung des Problems der Kaufleute in Kleinstädten. Dennoch beschreibt sie die komplexen Fragestellungen im Hinblick auf deren wirtschaftliche Zukunft recht treffend. Wenngleich sich nicht alle Unternehmen diesen Herausforderungen in gleichem Maße stellen müssen. Der kleine Krämer an der Ecke ist oftmals operativ und strategisch nicht annähernd so gut aufgestellt, wie etwa die global agierende Modekette oder der Elektronikfachhändler. Und dennoch sitzen sie in einem Boot. Denn, nur der passende Anbieter-Mix – eben aus Krämerladen und breit aufgestellten Handelsketten – bietet oftmals die Attraktivität, die uns Menschen in die Verkaufsflächen und letztlich an die Kassen lockt.
Heute, ein Jahr später, könnte man meinen, für die Verkäufer in jenen Kleinstädten habe sich die Lage durch Corona zusätzlich massiv verschärft. Doch das Gegenteil scheint aktuell der Fall zu sein. „Im Moment erfreuen sich die Händler in vielen Kleinstädten einer erstarkten Kundenfrequenz“, betont Andreas Grüß, Geschäftsführer bei der Lührmann Gruppe, die sich auf die Vermietung und Verkauf von Gewerbeimmobilien in 1A-Innenstadt- und Fachmarktlagen spezialisiert hat und mit Büros in Osnabrück, Berlin, Düsseldorf, München, Hamburg und Frankfurt vertreten ist. „Die Menschen gehen in diesen Tagen vermehrt regional, wortwörtlich vor der eigenen Haustür einkaufen“, konstatiert er.
Die Einschränkungen im öffentlichen Leben und die Maskenpflicht beim Shoppen trübe zwar die Kauflaune, wenn es darum geht, weitere Strecken auf sich zu nehmen, um etwa das vielfältigere Angebot wahrzunehmen, das in Großstädten geboten wird. Bestärke aber mutmaßlich das Gefühl der Konsumenten, mit ihrem Einkauf den regionalen Handel stärken zu können. Warum also für ein getrübtes Shoppingerlebnis in die Ferne schweifen, wenn ich es ebenso vor der eigenen Tür vorfinde und mein Geld weitestgehend der Wirtschaft vor Ort zugutekommt?
Gleichwohl dürfe man bei dieser Annahme nicht vergessen, dass der derzeit stark dezidierte Tourismusstrom in den Metropolen massiven Einfluss auf die Statistiken und die Einschätzungen der Experten nehme. Der Vergleich zwischen Klein- und Großstädten hinke daher ein wenig, aber die Kernaussage bleibe: „Die kleineren Städte sollten die positive Entwicklung dazu nutzen, um sich dem Konsumenten mit innovativen Handels- und Innenstadtkonzepten zu präsentieren“, betont Andreas Grüß.
Dass er mit seiner These goldrichtig liegen könnte, wird durch die Aussagen verschiedener Branchenteilnehmer untermauert. Leider war keiner von ihnen zu einem öffentlichen Statement bereit. „Bei dem Thema Corona reagiert der Handel hochsensibel“, bestätigt der Osnabrücker Immobilienexperte. Man wolle sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und das Unternehmen am besten erst gar nicht in irgendeiner Form mit der Corona-Krise in Verbindung bringen. Unter vorgehaltener Hand bestätigen aber die Vertreter großer Einzelhandelsketten und Fachmärkte die Annahme von Grüß.
„Wir verzeichnen bei unseren Standorten in Kleinstädten tatsächlich eine vergleichsweise höhere Kundenfrequenz als in den Jahren zuvor.“, ließ etwa ein Expansionsleiter einer großen Modekette wissen. Allerdings handele es sich lediglich um eine Momentaufnahme. Man müsse abwarten, inwieweit sich die Rahmenbedingungen in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln. Er und weitere Stimmen aus der Branche mahnen, dass der Handel nicht davon ausgehen solle, dass sich das aktuelle Konsumverhalten bei den Menschen nachhaltig verfestige. Sobald sich der Einkaufsalltag einigermaßen normalisiert und die Einschränkungen weitestgehend zurückgefahren wurden, müsse damit gerechnet werden, dass die Menschen wieder in alte Gewohnheitsmuster verfallen und es sie wieder vermehrt in die Großstädte und Metropolen zieht. Dorthin, wo meist ein noch besseres Einkaufserlebnis geboten wird.
Die Einschätzungen der Experten werden von den tatsächlichen Zahlen der Kundenfrequenzen gestützt. Die Plattform hystreet.com erhebt solche, valide Daten und stellt diese Interessierten kostenlos zur Verfügung. Die Betreiber sehen ihr Angebot als nützliche Entscheidungshilfe für Händler und Innenstadtakteure für die positive Entwicklung von Stadtzentren. „Wir können bestätigen, dass derzeit eine Verschiebung der Kundenströme stattfindet“, sagt Nico Schröder, Geschäftsführer bei hystreet.com. Die erhobenen, aktuellen Zahlen im Juli 2020 seien eindeutig. Gleichzeitig hebt Schröder hervor, dass - durch die vorherrschenden Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus und damit einhergehende Vermeidung von Fernreisen - viele Deutsche ihre Innenstädte in den Sommerferien wieder neu entdecken.
Gut beraten seien daher die Verantwortlichen in den Kleinstädten, diese Momentaufnahme der guten Stimmungslage jetzt als Chance für eine Optimierung ihrer Verkaufskonzepte zu verstehen und das Thema „nicht auf die lange Bank schieben“, empfiehlt Grüß. Welche Ansprüche der Kunden gilt es in besonderem Maße zu fördern? Welche Mobilitätskonzepte der Zukunft sind vielversprechend und eine passende Lösung für die vorhandene Infrastruktur? Auf welchen Anbieter-Mix und welches Produktportfolio sollte man setzen? Diese und viele weitere Fragen gilt es zu klären. „Nicht alle Kleinstädte werden die passenden Antworten auf diese Fragen finden“, bedauert Andreas Grüß. Doch dort, wo die Zusammenarbeit zwischen lokalem Handel, Wirtschaftsverbänden und Politik, gut funktioniere, stünden die Chancen gut, dass man im Schulterschluss mit allen Beteiligten geeignete Konzepte etabliere.
Das Beispiel der erfreulichen Momentaufnahme der Kundenfrequenzen in Kleinstädten zeige trotzdem recht deutlich, dass man aus der Corona-Krise auch durchaus einen positiven Effekt ziehen kann. „Nämlich die Chance ergreifen zu können, an die aktuelle, eher positiv gestimmte regionale Lage anzuknüpfen und die Kunden mit passenden Konzepten wieder mittel- und langfristig in die Innenstädte fernab der Metropolen zu locken“, betont Grüß.
Spätestens jetzt sei daher der Moment in den Kleinstädten günstig, den zurückkehrenden Kunden die Vorzüge der regionalen Einkaufs- und Erlebnislandschaft näher zu bringen. Dabei sollte der Fokus nicht nur auf den infrastrukturellen Vorteilen liegen. „Auf die gelungene Komposition aus architektonischen Reizen, kulturellen Angeboten und einem breit aufgestellten Anbieter-Portfolio kommt es an“, ist Andreas Grüß überzeugt. Wenn diese Komposition die passende Musik spiele, dann kämen auch mehr Menschen zum Konzert.
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